Der technologische Fortschritt hat uns beim Laufen viele neue Möglichkeiten eröffnet.
Als ich um die Jahrtausendwende zum ersten Mal die Laufschuhe schnürte, konnte ich weder Musik noch Hörbücher mit auf meine Runden nehmen. Ich hatte damals nur einen klobigen Walkman, den ich unterwegs nicht in der Hand halten wollte.
Meine Uhr zeigte mir die verstrichene Zeit und meine Herzfrequenz an, und es gab keinen Weg, diese Daten aus dem internen Speicher herauszubekommen. Ich führte ein handschriftliches Lauftagebuch, in das ich Dauer, grob geschätzte Distanz und Laufgefühl (“ging richtig gut”, “locker-flockig”, “schwere Beine”) eintrug.
Das Läuferleben war einfach in den Nullerjahren.
Die Technologie verändert das Laufen
Dann kamen MP3-Player im Hosentaschenformat, GPS-Uhren, Podcasts, Hörbuch-Flatrates. Der innere Monolog konnte jetzt wahlweise durch Unterhaltung oder Information übertönt werden, das Lauftagebuch wurde ersetzt durch Online-Logs, und Algorithmen halfen uns fortan dabei, die Qualität unseres Trainings zu beurteilen.
Diese Entwicklungen sind zunächst einmal weder gut noch schlecht. Es ist wie immer, wenn es um Technologien geht, eine Frage des richtigen Umgangs mit ihnen.
Ich liebe es zum Beispiel, Podcasts und Hörbücher zu hören, und habe das nie für Zeitverschwendung gehalten. Ich habe mich von pulsierenden Techno-Beats zu Bestleistungen auf unserem WaterRower antreiben lassen. Ich finde es großartig, dass mein Training heute ganz ohne mein Zutun lückenlos dokumentiert wird und ich mit der Navigationsfunktion meiner Uhr neue Strecken erkunden kann, ohne mich zu verlaufen.
Ablenkung vom unmittelbaren Erlebnis
Auf der anderen Seite besteht kein Zweifel, dass sich die Technologie beim Laufen, Radfahren oder Wandern zu einem gewissen Grad zwischen uns und das unmittelbare Erlebnis schiebt.
Wenn ich beim Laufen einen Podcast höre, dann entgeht mir vielleicht das Pfeifen des Eisvogels, der neben mir ins Wasser taucht. Wenn ich auf meiner Uhr nach der nächsten Abzweigung schaue, dann verpasse ich vielleicht die fantastische Aussicht, die sich für einen kurzen Augenblick zwischen zwei Baumwipfeln aufgetan hat.
Und wenn ich mich von der vorbereiteten Playlist durch die schwierigste Phase eines Rennens tragen lasse … nehme ich mir damit nicht die Gelegenheit, mich mit meinen Gefühlen in diesem Moment auseinanderzusetzen und daran zu wachsen?
Mein Schlüsselerlebnis
Ich hatte gerade erst ein Schlüsselerlebnis in dieser Hinsicht, das ich mit dir teilen möchte.
Beim Laufen bin ich aus Gewohnheit am liebsten ohne Musik und Co. unterwegs, aber auf meine langen Trainings- und Ultrawanderungen habe ich bislang immer meine AirPods mitgenommen. Mein Deal mit mir selbst lautete, dass ich sie nach 20 oder 25 Kilometern nutzen dürfte, um mich mit einem Hörbuch von der Monotonie des Wanderns abzulenken.
Vor einigen Monaten habe ich dann aus unserem Podcast-Interview mit dem Extremwanderer Jannik Giesen einen interessanten Denkanstoß mitgenommen. Jannik sagte damals, dass er zwar gelegentlich im Training Musik oder Podcasts höre, aber bei seinen Wettkämpfen eigentlich immer darauf verzichte, weil er diese mit allen Sinnen erfahren wolle.
Ich traf damals den Entschluss, das bei meinem anstehenden 100 km Megamarsch rund um Frankfurt auch mal auszuprobieren. Bei meiner letzten Testwanderung eine Woche vor dem Marsch ließ ich die AirPods Zuhause, um den “Härtefall” zu proben – und erlebte einen echten Aha-Moment.
Ein unerwarteter Perspektivwechsel
Während ich in den ersten Stunden meiner Wanderungen bislang immer dem Moment entgegen gefiebert hatte, an dem ich mein Hörbuch starten konnte, war ich dieses Mal vom ersten Schritt an ganz im Reinen mit mir und der langen Distanz, die noch vor mir lag. Meine Angst, dass ich die Ablenkung durch das Hörbuch vermissen würde, stellte sich als unbegründet heraus.
Und dann passierte etwas Unerwartetes: Meine Perspektive auf die Wanderung und die damit verbundenen Schmerzen, Unannehmlichkeiten und Emotionen veränderte sich grundlegend. Die Wanderung war nun nicht mehr etwas, von dem ich mich ablenken wollte, sondern etwas, das ich ganz bewusst erleben durfte.
Ich wanderte an diesem Tag 50 Kilometer wie im Flow, und eine Woche später legte ich beim Megamarsch Frankfurt die 100 Kilometer in 15:10 Stunden zurück – und damit mehr als 80 Minuten schneller als je zuvor. Ohne Ablenkung auf den Ohren konnte ich mich voll und ganz der Aufgabe widmen, die sich mir stellte, und Lösungen für die Probleme finden, die mir unterwegs begegneten.
Zweifellos haben auch andere Faktoren dazu beigetragen, dass ich an diesem Tag über mich hinauswachsen konnte. Aber ich bin mir sicher, dass der Technologieverzicht eine entscheidende Rolle dabei gespielt hat.
Mit dem „Weniger“ experimentieren
Natürlich musst du nicht in die Steinzeit des Laufens (oder Radfahrens, oder Wanderns) zurückkehren. Ich werde das auch nicht tun, und weiterhin meine Laufuhr tragen und Podcasts und Musik hören, wann immer mir danach ist.
Aber vielleicht möchtest du ab sofort häufiger mal mit dem „Weniger“ experimentieren. Wir sind in unserem Alltag von morgens bis abends (und oft auch nachts) umgeben von Technologie, Ablenkung und Zerstreuung, immer vernetzt, immer erreichbar.
Was würde sich verändern, wenn du das Laufen (oder deinen Spaziergang, oder dein Workout) zu deinem täglichen Offline-Ritual machst? Zu einer Zeit, in der du keine Ablenkung von deiner Umgebung, deinen Gedanken und Gefühlen suchst, sondern diesen Dingen deine volle Aufmerksamkeit schenkst?
Was würde passieren, wenn du die Stille nicht mit Musik oder Worten füllst, sondern ihr einfach mal zuhörst?
Gabi Völkel
ich habe eigentlich noch nie Musik gehört auf meinen Laufstrecken, ich halte manchmal an um zu fotografieren, wenn es ein besonderes Motiv gibt. Oder wenn ein Tier über den Weg lief( Reh oder Hase oder Fuchs habe ich schon gesehen)
Isabelle
Jahrelang bin ich ohne Musik oder Podcasts unterwegs gewesen. Durch meine Lungenerkrankung bräuchte ich alle Konzentration um die Atmung ständig anzupassen, sodass ich keinen Hustenanfall bekam. Über die Jahre lernte ich meine Lunge besser kennen und auch neue Medikamente ließen die Hustenattacken weniger werden. Das Gefühl, einfach die Gedanken beim Laufen schweifen zu lassen oder auch einfach mal komplett auf Autopilot zu schalten, war unfassbar schön. Eine Zeit lang habe ich es irgendwann mal mit Podcasts probiert, weil es so viele tolle gibt und ich nicht wusste, wann ich die sonst hören soll. Aber so richtig getaugt hat mir das nicht. Somit laufe ich weiterhin in der Stille. Beziehungsweise so still, wie ein Wald eben sein kann. Nur bei Intervallen mache ich gern einen Podcast an, dann hab ich das Gefühl, jemand läuft mit mir. Vom Inhalt bekomme ich zwar nicht viel mit, aber irgendwie mag ich das.
Daniel Roth
Hey Isabelle, danke fürs Teilen deiner Gedanken und weiterhin viel Spaß beim Laufen – egal ob mit oder ohne Podcast im Ohr 🙂
Daniel Roth
Das ist toll, dass du dir beim Laufen auch mal die Zeit nimmst, ein Foto zu machen! Katrin hat letztens an der Nidda nach langer Zeit mal wieder einen Eisvogel gesehen, aber die sind zu schnell zum fotografieren 🙂
Miri
Ich verstehe genau, was du meinst! Bei mir ist es von der Strecke und der Tagesform abhängig. Bei der „Standardrunde“ in der Nachbarschaft an einem ruhigen Tag höre ich eher einen Podcast oder Musik als auf einer besonders schönen Strecke in der Natur oder nach einem stressigen Uni/Arbeitstag. Manchmal mache ich auch etwas an und merke dann, dass ich nicht richtig folgen kann. Dann weiß ich, dass heute eher ein Stille-Tag ist 😉 Da bin ich ganz froh über meine Knochenschall-Kopfhörer, die stören auch dann nicht, wenn man gerade nichts hört. Kann ich also sehr empfehlen 🙂 (ganz abgesehen davon fühle ich mit damit auch im Straßenverkehr sicherer.)
Bei Wettkämpfen habe ich nie Kopfhörer vermisst, habe aber auch noch nie etwas längeres als einen 10k gemacht. Bei meinem 50er-Megamarsch hatte ich meinen Freund zum quatschen 😀 Schwer zu schätzen, wie es bei einem Halbmarathon oder Marathon wäre…
Daniel Roth
Hey Miri, finde ich super deinen Ansatz, das nach „Tagesform“ bzw. Bedürfnis zu entscheiden. Knochenschall-Kopfhörer hatte ich auch mal, aber da ist mir der Wind oft so in die Ohren gerauscht, dass ich nix vom Hörbuch verstanden hab 🙂
Queen All
Ich mag es tatsächlich lieber ruhig beim Laufen. Da ich im Wald unterwegs bin, ist die Geräuschkulisse auch wirklich angenehm und ich brauche auch mal die Ruhe für meine Gedanken. Dafür geht´s im Auto immer rund, da kann ich die Stille nur schwer aushalten.
Daniel Roth
Aaah, ich habe viele gute Erinnerungen ans Autofahren mit voll aufgedrehten Boxen (wobei die in den zwei Autos, die ich in meinem Leben gefahren bin, schnell an ihre Grenzen gekommen sind, haha).
Matthias Biet
Sehr spannendes Thema, danke! Beim Training benutze ich gerne Musik oder Podcasts. Hab es aber auch schon ohne probiert, das ist auch manchmal schön. Ich entscheide das jetzt immer spontan je nach Lust und Laune. Allerdings laufe ich bei Veranstaltungen immer ohne Musik. Da will ich dann bewusst alles mitbekommen. Auch bei Parkruns 😁
Daniel Roth
Der beVegt-Podcast ist natürlich immer erlaubt Matthias, das hätte ich vielleicht dazu schreiben sollen 😉
Jackie
Ich laufe steinzeitmäßig :). Ganz ohne irgendeine Ablenkung. Ich möchte die Geräusche in der Natur mit allen Sinnen wahrnehmen. So wie du es bereits schreibst, wir sind den ganzen Tag nonstop mit Einflüssen konfrontiert. Ich nehme mich ganz bewusst täglich für das Laufen in der Stille raus. Mein „Tracker“ ist mein Körper-dafür brauch ich keine Pulsuhr, Handy oder Ähnliches. Laufen ist meine Art zu meditieren.
Daniel Roth
Das klingt wunderbar Jackie – ich wünsche dir noch viele meditative Laufstunden! 🙂