Lass uns mit einem kleinen Gedankenspiel starten.
Wenn du ein Läufer bist, dann gibt es wahrscheinlich irgendein Ziel, von dem du insgeheim (oder auch ganz öffentlich) träumst. Vielleicht ist es eine bestimmte Distanz, die du am Stück schaffen willst? Oder eine bestimmte Zeit über 10 Kilometer, den Halbmarathon oder Marathon?
Jetzt stell dir mal vor, wie es sich anfühlen würde, dieses Ziel zu erreichen. Spürst du den Stolz in deiner Brust, das wohlige Glücksgefühl in deinem Bauch?
Sehr gut. Es gibt kaum etwas Besseres, oder?
Lass uns nun ein kleines Detail dieser Vorstellung verändern: Du hast dein Ziel zwar erreicht, aber alle anderen Läuferinnen und Läufer auf der Welt (ja, wirklich alle) können mindestens einen Kilometer weiter oder eine Minute schneller laufen als du.
Fühlt sich diese Vorstellung immer noch so toll an? Wahrscheinlich nicht.
Dabei hat sich an deiner eigenen Leistung gar nichts geändert. Es gibt also eigentlich keinen Grund, weniger stolz darauf zu sein.
Warum macht es so einen großen Unterschied, wie die anderen Läufer in unserem Gedankenspiel abschneiden? Die Antwort: Weil wir unsere eigene Leistung im Vergleich zu ihnen beurteilen. Und wenn jeder Läufer auf der Welt die 10 Kilometer in weniger als 60 Minuten laufen kann, dann ist es eben nichts Besonderes, wenn auch du es gerade so schaffst.
Laufen ist wie für Vergleiche gemacht
Laufen ist ein Sport, bei dem sich Vergleiche geradezu aufdrängen: Wir sprechen über unsere Durchschnittspace, über Wochenkilometer und unsere Wettkampfergebnisse.
Online-Communities wie zum Beispiel Strava haben den Vergleich mit anderen Sportlern sogar zu einem zentralen Element gemacht. Wenn ich bei Strava das Profil eines anderen Läufers betrachte, dann wird mir dort ein „Seite-an-Seite-Vergleich“ angezeigt.
Die Software führt automatisch Bestenlisten über sogenannte „Segmente“ (das sind von den Nutzern festgelegte Streckenabschnitte auf ihren Lauf- und Radrunden) und sortiert die Mitglieder unseres Team-beVegt-Clubs jede Woche nach der Gesamt-Laufzeit sowie nach den zurückgelegten Kilometern und Höhenmetern.
Die drei besten der vergangenen Woche in diesen Kategorien bekommen dann sieben Tage lang einen „Ehrenplatz“ ganz oben auf der Clubseite.
Vergleichen ist menschlich
Aber warum können wir nicht einfach nur auf uns selbst schauen? Warum ist der Vergleich mit anderen so wichtig für uns?
Einen Erklärungsansatz liefert die Theorie des sozialen Vergleichs, die der Sozialpsychologe Leon Festinger in den 1950er Jahren entwickelt hat. Demnach versuchen wir, etwas über uns selbst herauszufinden, indem wir uns mit unseren Mitmenschen vergleichen:
- Was ist unsere Rolle in der Gemeinschaft, in der wir leben?
- Was sind unsere Stärken und Schwächen?
- Wie können wir uns weiterentwickeln?
Vergleichen ist also eine ganz menschliche Eigenschaft. Wir stellen Vergleiche an, um unsere Identität zu erkunden und zu festigen.
Abwärts- und Aufwärtsvergleiche
Wir können dabei zwei Arten von Vergleichen vornehmen: Abwärts- und Aufwärtsvergleiche.
Beim Abwärtsvergleich vergleichen wir uns mit Menschen, die (unserer Meinung nach) in einer bestimmten Hinsicht schlechter abschneiden als wir. Als Läufer könnten wir uns zum Beispiel mit einem langsameren Läufer vergleichen und auf diese Weise unser Selbstwertgefühl steigern.
Abwärtsvergleiche sind grundsätzlich völlig okay – so lange wir anständig genug sind, uns nur im Stillen darüber zu freuen, und dem anderen unsere (vermeintliche) Überlegenheit nicht unter die Nase zu reiben.
Beim Aufwärtsvergleich hingegen vergleichen wir uns mit Menschen, die wir als überlegen wahrnehmen. Im besten Fall motiviert uns das und treibt uns an, uns anzustrengen und besser zu werden. Wir sehen, was alles möglich ist, und das kann uns helfen, unsere eigenen Grenzen zu verschieben und über uns hinauszuwachsen.
Die Vergleichsfalle – Teil 1
Aber was passiert, wenn wir unzufrieden mit uns selbst sind, und unser Selbstwertgefühl angeknackst ist? Dann können Aufwärtsvergleiche gefährlich werden, uns demotivieren und Gedanken ans Aufgeben auslösen:
- „Ich werde nie so schnell sein wie sie.“
- „Er trainiert genauso oft wie ich, aber er ist einfach viel besser.“
- „Warum laufe ich überhaupt, wo ich doch offensichtlich überhaupt kein Talent habe?“
Wenn wir jetzt nicht die Reißleine ziehen, geraten wir immer tiefer in die Vergleichsfalle hinein. Es geht dann nicht mehr darum, wie gut wir sind und welche Fortschritte wir schon erreicht haben – sondern immer nur noch darum, wie gut wir im Vergleich zu anderen sind.
Und das haben wir natürlich nicht selbst in der Hand.
Die Vergleichsfalle – Teil 2
Das Problem ist, dass wir immer genügend „Stoff“ für solche Vergleiche finden werden, denn es gibt immer irgendjemanden, der mit mehr Talent gesegnet ist als wir.
Und im Social Media-Zeitalter ist es noch viel leichter geworden, in die Vergleichsfalle zu tappen. Schließlich präsentieren wir uns auf Facebook und Co. in unserem besten Licht: Wir stellen unsere Erfolge besonders heraus und kehren unsere Misserfolge unter den Teppich.
Dadurch entsteht ein falscher Eindruck davon, wie erfolgreich, glücklich und talentiert unsere Online-Bekanntschaften sind. Wir vergleichen also unsere tatsächliche Realität mit der geschönten Realität der anderen – und ziehen dabei natürlich oft den Kürzeren.
5 Tipps gegen „Vergleicheritis“
Was kannst du also tun, um der Vergleichsfalle zu entgehen? Hier sind fünf Tipps, die natürlich nicht nur fürs Laufen, sondern auch für andere Lebensbereiche gelten:
1. Fokussiere dich auf deine eigenen Aufgaben und Ziele.
Wenn wir im Flow sind – also voll und ganz auf das fokussiert, was wir gerade tun – dann schauen wir weder nach links noch nach rechts.
Ein Trainingslauf durch die Natur, ein anstrengender Anstieg mit dem Rad, ein schweißtreibendes Workout im Fitnessstudio: In solchen Momenten ist es uns egal, was andere um uns herum tun, denn wir sind ganz mit uns selbst beschäftigt.
Wenn du dich das nächste Mal beim Vergleichen ertappst, dann denk daran, dass dich das deinem Ziel keinen Schritt näher bringt. Fokussiere dich stattdessen auf deine eigenen Aufgaben und Ziele, und mach dich an die Arbeit: Schnüre die Laufschuhe, zieh dein Krafttraining durch oder feile an deinem Trainingsplan.
2. Vergleiche dich nicht mit anderen, sondern mit dir selbst.
Der Vergleich mit anderen ist in gewisser Weise geradezu sinnlos: Du kannst das Ergebnis ja nicht beeinflussen.
Eine andere Sache ist es, wenn du dich mit dir selbst vergleichst. Wo stehst du jetzt im Vergleich zum letzten Jahr? Was hast du in den vergangenen Monaten erreicht? Was machst du heute besser als damals?
Auf diese Weise lenkst du die Aufmerksamkeit wieder auf deine eigenen Fortschritte und Erfolge – und somit auf die Dinge, die du selbst in der Hand hast.
3. Nimm dir vor, dein Bestes zu geben.
Als Läufer setzen wir uns gerne konkrete Zeitziele: 10 Kilometer in 60 Minuten, Halbmarathon unter 2 Stunden, die magische 4-Stunden-Grenze im Marathon und so weiter.
Das Problem mit diesen Zielen ist, dass sie von Faktoren abhängig sind, die wir nicht kontrollieren können. Unsere Tagesform, das Wetter und noch hundert andere Dinge können uns einen Strich durch die Rechnung machen.
Hier ist ein besseres Ziel: Nimm dir vor, dein Bestes zu geben. Das kannst du nämlich immer tun – egal ob das Wetter mitspielt oder nicht, und egal ob du einen super Tag erwischt hast oder nicht.
Und wenn du weißt, dass du alles gegeben hast, dann schneidest du in dieser Kategorie auch im Vergleich mit den besten Sportlern hervorragend ab.
4. Vermeide Aufwärtsvergleiche (wenn sie dich nicht motivieren).
Wir kommen alle mit unterschiedlichen Talenten zur Welt. Vergleiche mit schnelleren Läufern machen deshalb meistens einfach keinen Sinn.
Ich laufe den Marathon an einem guten Tag in unter 3 Stunden. Bin ich also ein guter Läufer? Im Vergleich mit einem 4-Stunden-Läufer wahrscheinlich schon. Im Vergleich mit dem Marathon-Olympiasieger Eliud Kipchoge eher nicht.
Meine Empfehlung ist deshalb, dass du Aufwärtsvergleiche vermeiden solltest. Ausnahme: Sie motivieren und inspirieren dich. Dann kannst du das natürlich für dich nutzen!
5. Begrenze deine Zeit in sozialen Netzwerken.
Studien zeigen, dass uns soziale Netzwerke wie Facebook unglücklich und unzufrieden machen können. Und zwar besonders dann, wenn wir zu viel Zeit damit verbringen, uns die Profile und Beiträge von vermeintlich schöneren, gesünderen, disziplinierteren oder erfolgreicheren Menschen anzuschauen.
Die Lösung? Frei nach Peter Lustig: Ausloggen 😉 Und zum Beispiel raus an die frische Luft gehen!
Erik Ritzerfeld
Sehr guter Denkanstoss! Und gerade beim Laufen und bei Nutzung sozialer Netzwerke schwer umzusetzen…ich tappe auch immer wieder in die Falle und lass mich davon runter ziehen, dass ich langsam und vermeintlich nicht so diszipliniert bin wie andere….ich versuche mir dann immer zu sagen das ich das Glück habe gesund zu sein und laufen zu können….ist doch wirklich Luxus und keine Selbstverständlichkeit!
Daniel Roth
Hey Erik, der Gedanke, dass man gesund ist und laufen darf/kann, hilft mir auch oft, wenn ich mal unmotiviert bin oder einen schlechten Tag habe. Man vergisst das ja immer sehr schnell, und denkt dann wieder daran, wenn man krank oder verletzt ist. Ein guter Tipp!
Melanie
Schöner Beitrag! Das hatte ich vor ein paar Wochen auch als Thema auf meinem Blog. Da fehlen nur noch die professionellen Lösungstipps. Aber ich kann euch nur zustimmen!
Daniel Roth
Hey Melli – ooooh dein Blog ist online! Hab ihn jetzt grade erst entdeckt 🙂 Und du hast in deinem Beitrag doch auch Lösungstipps mitgeliefert, die dir in diesen Momenten des Zweifelns helfen. Kann ich alles genau so unterschreiben!
Melanie
Danke Dir, lieber Daniel. Naja, ich bin da immer noch am rumbasteln, aber es wird…
Thor
Es gibt fast keinen Lauf, auf dem ich nicht mindestens ein paar Worte mit anderen Läufern wechsle (gerade bergauf zur gegenseitigen Motivation), oder auch mal – bei guter Laune auf der Strecke bzw. am Streckenrand – mich um die eigene Achse drehe oder irgendeinen Schabernack mache.
Klar würde ich gerne z.B. die 42 Minuten auf 10 km unterbieten, aber wenn’s nicht klappt… dann im nächsten Leben 🙂 Wer sich selbst zu ernst nimmt und nur stresst, der hat doch auch nicht wirklich Freude (mehr als nur Spaß) am Sport.
Eckhart Tolle brachte es sinngemäß mal ganz gut auf den Punkt, als er meinte, dass er sich damit abfinden müsste, Wimbledon nicht mehr zu gewinnen.
Daniel Roth
Hey Thor, dazu kann ich nur sagen: Jeder sollte so an das Laufen herangehen, dass es ihn/sie glücklich macht. Für den einen mag das bedeuten, auch mal ein paar Faxen auf der Strecke zu machen, für den anderen liegt die Befriedigung darin, wirklich alles zu geben und an die Grenze zu gehen. Ich finde beides völlig in Ordnung, da gibt es kein Richtig und kein Falsch. Sich selbst durch Vergleiche mit schnelleren Läufern runterzuziehen dürfte aber ganz unabhängig vom jeweiligen Lauftyp eher kontraproduktiv sein 🙂
Thor
Da hast Du sicher Recht, Daniel. Und klar, es kann auch voll rocken, im Team oder alleine auf den letzten Metern noch wirklich alles rauszuhauen oder überhaupt ehrgeizig an einen Lauf ranzugehen.
Gaby
Toller Beitrag und auf den Punkt getroffen . Ich habe innerhalb des letzten Jahres erhebliche Fortschritte gemacht , die ich mir letztes Jahr so nicht zugetraut hätte. Dieses Jahr bin ich wieder nicht so richtig zufrieden , denn andere sind ja „noch “ schneller und laufen auch noch nicht so lange, trainieren auch nicht mehr usw.
Ich muss mir immer wieder meine persönlichen Erfolge bewusst machen , um diese wert zu schätzen und stolz auf mich zu sein unabhängig von den Leistungen anderer.
Daniel Roth
Hey Gaby, du hast schon so viel erreicht, darauf darfst du wirklich stolz sein. Ich weiß dass es ziemlich schwer ist sich vom Vergleich mit anderen zu lösen – ich hab auch so einige Sportler in meinem Bekanntenkreis, die mich in den letzten Jahren einfach so „überholt“ haben. Die wird es aber immer geben, und deshalb ist es eine simple Entscheidung: Immer unzufrieden sein, weil jemand anderes besser ist, oder einfach damit aufhören und sich auf sich selbst konzentrieren.
Matthias J.
Vergleichen ist menschlich, da habt ihr absolut recht. Man sieht es ja schon bei kleinen Kindern: oh, das andere Kind hat ein Eis – warum habe ich keins? Und dann geht das Geschrei los 😉
Ganz aus dem Vergleichen wird man nicht rauskommen und sollte man wohl auch nicht. Vergleichen bringt uns weiter, es motiviert unsere Weiterentwicklung. Aber es macht nicht glücklich, erst recht nicht im Hinblick auf materielle Dinge. Gerade diese „Glücks-Erkenntnis“ war bei mir essentiell, um der Falle zu entkommen. Häufig offline zu gehen (ABschalten) hilft sehr dabei, ebenfalls autogenes Training, Meditation, einfach mal für sich zu sein. Und minimalistischer zu leben, Freude an der Natur und kleinen Dingen zu finden. Das ist nicht schwer, aber man muss einigen Versuchungen des Alltags widerstehen und erkennen, dass sie dem eigenen Glück eigentlich nur im Weg stehen (auch wenn die Werbung etwas anderes verheißen mag ;-)).
Viele Grüße,
Matthias
Agnes
Ja, Vergleiche können uns motivieren, aber auch demotivieren. Was ich auch wichtig finde: was sagt eine bestimmte Zeit bei einem Lauf über die Leistung des Läufers aus? Wie bei Schulnoten kennen wir nicht den Hintergrund, sondern nur eine Zahl. Einer hat drei Wochen intensiv gelernt und eine 3 als Note bekommen – ein anderer hat sich das Thema eine halbe Stunde durchgelesen und eine 1 bekommen. Was ist die größere Leistung? So wissen wir auch bei anderen Läufern nicht, wie lange und intensiv sie trainiert haben, was für körperliche Einschränkungen sie vielleicht haben, ob die Zeit für sie persönlich super, durchschnittlich oder eher mäßig ist. Der einzige Vergleich, der daher Sinn machen kann ist der Vergleich mit der eigenen Leistung. Und dabei ist nicht das Ergebnis entscheidend, sondern der Einsatz, den man gezeigt hat. An manchen Tagen fällt uns eine Zeit leicht – an anderen haben wir für die gleiche Zeit viel kämpfen müssen.
Liebe Grüße
Agnes
Daniel
Danke für die wichtige Ergänzung, Agnes. Du hast vollkommen Recht! Ich habe genau zu diesem Thema sogar schon mal einen Beitrag geschrieben: https://www.bevegt.de/was-du-nicht-siehst/
Sportliche Grüße
Daniel
Maik
Hallo Daniel,
ein echt passender und aktueller Artikel. Man vergleicht sich ja aktuell überall und mit allem. Ob im Job, beim Laufen oder im Privatleben. Wie Du auch schon thematisiert hast, ist auch in meinen Augen das Problem, dass man alles mittlerweile in den Social Media teilt und immer ein Handy mit Kamera verfügbar hat und somit alles dokumentieren kann, was wiederherum den Druck für andere aufbaut.
Gruß
Maik