Wenn ich das Wort „Perfektionismus“ höre, dann kommt mir immer ein Tipp in den Sinn, den ich mal in einem Ratgeber für Bewerbungsgespräche gelesen habe. Der Tipp lautet, dass man auf die Frage nach den eigenen Schwächen auf keinen Fall antworten sollte, dass man „leider ein bisschen perfektionistisch“ ist.
Die Begründung ist, dass Perfektionismus eine Art Fake-Schwäche sei, mit der die Bewerber sich einfach nur in ein gutes Licht rücken möchten. Was kann schließlich schon so schlimm daran sein, hohe Ansprüche an sich zu stellen und alles immer besonders gut machen zu wollen?
Das klingt erstmal plausibel. Als persönlich Betroffener kann ich aber sagen, dass es Unsinn ist. Echter Perfektionismus ist ein ernsthaftes Handicap.
Perfektionismus schmeißt sich dir in den Weg, umklammert deine Beine und hat nur ein einziges Ziel: Dich davon abzuhalten, in deinem Leben Dinge zu tun, die dir etwas bedeuten.
Perfektionismus hat viele Gesichter
Perfektionismus ist weiter verbreitet als du vielleicht denkst, und er hat viele Gesichter. Hier sind ein paar Beispiele:
- Du lässt das Training ausfallen, weil du keine Zeit hast, um ins Fitnessstudio zu gehen und denkst, dass du zu Hause nicht effektiv trainieren kannst.
- Du meditierst nicht, weil du glaubst, dass du niemals 30 Minuten oder sogar eine Stunde am Stück stillhalten könntest.
- Du schiebst den Umstieg auf eine pflanzenbasierte Ernährung vor dir her, weil du nicht „für immer“ auf Fleisch, Käse oder Eier verzichten willst.
- Du willst eine Veränderung in deinem Leben erreichen, aber glaubst, dass du noch nicht ganz bereit dafür bist.
Wenn du diese oder ähnliche Situationen kennst, dann kann es gut sein, dass du ein perfektionistisches Mindset verinnerlicht hast, das dich ausbremst.
Die Wahrheit über Perfektionismus
Bis vor einigen Monaten war ich der Meinung, dass Perfektionismus eine unveränderliche Charaktereigenschaft ist, mit der ich mich schlichtweg abfinden muss. Aber dann hat unser Freund Mark Maslow im beVegt-Podcast beiläufig das Buch How to be an Imperfectionist* von Stephen Guise erwähnt, das er gerade fertig gelesen hatte.
Der Titel hat mich natürlich aufhorchen lassen, und ich habe mir das Buch direkt bestellt und in wenigen Tagen verschlungen. Es hat mein Verständnis dafür, was Perfektionismus ist (und was nicht), was er anrichtet und wie man ihn überwinden kann, komplett verändert.
Ich will dir einige der Gedanken und Ideen aus dem Buch vorstellen, die ich fett unterstrichen habe, weil sie mich besonders überrascht oder beeindruckt haben.
#1 Perfektionisten geht es nicht um Exzellenz, sondern um Sicherheit
Das war für mich der absolute Augenöffner. Allein für diese Erkenntnis hat sich das Buch für mich schon gelohnt: Perfektionismus ist gar nicht das Streben nach Perfektion, sondern ein Symptom unserer Angst vor dem Scheitern!
Perfektionisten stellen unrealistische Erwartungen an sich selbst und setzen sich geradezu unerreichbare Standards, weil ihnen das einen Grund gibt, untätig zu bleiben. Und wenn man etwas erst gar nicht versucht, dann kann man auch nicht scheitern.
Perfektionismus ist die perfekte Ausrede.
#2 Perfektionismus schützt unser Selbstvertrauen und unsere Hoffnungen
Bei unserer Angst vor dem Scheitern geht es gar nicht so sehr um die tatsächlichen Folgen eines Misserfolgs, die realistisch betrachtet oft nicht wirklich gravierend sind.
Es geht vielmehr um die Vorstellung, an etwas zu scheitern, das uns etwas bedeutet – zum Beispiel beruflich erfolgreich zu sein, eine erfüllte Beziehung zu führen oder einen Roman zu schreiben.
Misserfolge in diesen Bereichen nehmen wir persönlich. Wir suchen die Ursachen dafür bei uns selbst: Wenn wir die Beförderung nicht bekommen, sind wir nicht smart genug. Wenn wir eine Abfuhr bei unserem Schwarm kassieren, sind wir nicht attraktiv oder interessant genug. Wenn wir keinen Verlag für unseren Roman finden, fehlt uns das Talent.
Perfektionisten warten auf den richtigen Moment, um nach der Beförderung zu fragen, um ihren Schwarm anzusprechen oder die erste Seite ihres Romans zu schreiben. Und so lange der richtige Moment noch nicht gekommen ist, können sie auch nicht scheitern.
Auf diese Weise schützt Perfektionismus unser Selbstvertrauen und hält unsere Hoffnungen am Leben.
#3 Der Unterschied zwischen Zufall und Scheitern
Scheitern ist, wenn du bei einem Marathon aufgeben musst, weil du dich nicht gut vorbereitet hast. Scheitern ist nicht, wenn du dich als einer von zwanzig Menschen auf eine Stelle bewirbst und eine Absage erhältst.
Das ist einfach nur Zufall.
Wenn ein negatives Ergebnis auf Zufall beruht, dann nimm es nicht persönlich, sondern starte den nächsten Versuch.
#4 Prokrastination ist keine Faulheit
Prokrastination ist keine Faulheit, sondern das Resultat unserer Angst vor dem Scheitern in Kombination mit einem perfektionistischen Mindset.
#5 Perfektionismus steht unserer persönlichen Entwicklung entgegen
Wir müssen uns im Leben ständig zwischen Komfort (alles bleibt wie es ist) und persönlicher Weiterentwicklung entscheiden. Um zu wachsen, müssen wir Risiken, Unsicherheit und Anstrengung in Kauf nehmen – und genau diese Dinge versuchen Perfektionisten zu minimieren.
Wenn du im Leben nicht auf der Stelle treten willst, dann musst du alles dafür tun, das perfektionistische Mindset hinter dir zu lassen.
#6 Vorwärts zu gehen ist wichtiger als den besten Weg zu finden
Perfektionisten bleiben untätig, weil es nicht möglich ist, unter den vielen Optionen, die sich uns in jeder Situation unseres Lebens bieten, die beste zu identifizieren.
Untätigkeit ist aber immer die schlechteste Entscheidung. Ins Handeln zu kommen, den ersten Schritt (und dann den nächsten) zu machen ist wichtiger, als den besten Weg zu finden.
#7 Mood follows Action
Wie kommt man ins Handeln? Nicht, indem man darauf wartet, dass man sich plötzlich motiviert fühlt.
Sondern indem man den ersten Schritt macht.
Unsere Handlungen setzen mehr Emotionen frei als unsere Gedanken oder ein inspirierendes Zitat auf Instagram. Mood follows Action: Sobald du anfängst, stellt sich die „richtige Stimmung“ von alleine ein.
Und nicht umgekehrt.
Warte nicht darauf, dass du Lust bekommst, laufen zu gehen. Lauf los und spüre, wie du dich mit jedem Schritt ein bisschen besser fühlst.
Warte nicht, bis du motiviert bist, deine Ernährung zu verändern. Fang an, vegane Gerichte zu kochen, und du wirst merken, dass es dir mit jedem Tag mehr Freude bereitet.
#8 Das Gegenteil von Perfektionismus ist nicht Gleichgültigkeit
Stephen Guise empfiehlt in seinem Buch*, sich ein imperfektionistisches Mindset anzueignen.
Aber was ist das eigentlich – Imperfektionismus?
Es ist nicht: Faulheit, niedrige Standards, die Zufriedenheit mit Misserfolg, das Desinteresse an Exzellenz und Fortschritt. Imperfektionismus bedeutet, gute Dinge zu tun und zu verfolgen, ohne dabei Perfektion zu erhoffen oder gar zu erwarten.
Und Überraschung: Eine imperfektionistische Herangehensweise bringt bessere Resultate als Perfektionismus.
#9 Die Arbeit ist wichtiger als das Ergebnis
Imperfektionisten bewerten das Bemühen, den einzelnen Arbeitsschritt im Hier und Jetzt höher als ein perfektes Ergebnis in der Zukunft: „Effort over Perfection.“
Sie machen sich frei von Gedanken an das Resultat und gehen voll im Prozess auf. Sie vertrauen darauf, dass sich das Ergebnis von ganz alleine einstellen wird.
Der Perfektionist will seinen ersten Marathon in unter 4 Stunden finishen, und schiebt die Anmeldung vor sich her, weil der richtige Zeitpunkt noch nicht gekommen ist (weil er Angst hat, zu scheitern).
Die Imperfektionistin meldet sich einfach mal für den Marathon an und denkt dann immer nur von einer Trainingseinheit zur nächsten.
Wer von den beiden wird sein Ziel erreichen?
#10 Gewohnheiten sind besser als Motivation
Kurzfristige Motivationsspitzen sind schön. Gute Gewohnheiten sind besser.
Wenn du dir gesunde Ernährungsgewohnheiten angeeignet und das regelmäßige Training zur Routine gemacht hast, dann brauchst du keine Motivation mehr.
PS: Wir haben ab sofort auch einen Youtube-Kanal! Aktuell gibt es dort noch nichts zu sehen, aber im Januar werden wir anfangen, (unperfekte) Videos zu veröffentlichen und mit verschiedenen Formaten zu experimentieren. Wir freuen uns, wenn du unseren Kanal abonnierst und zu unseren ersten Zuschauer:innen gehörst!
Iris Tanner-Hopp
Vielen Dank für diese interessante Vorstellung. Das Buch muss ich mir jetzt unbedingt bestellen. Ich kann mich da mit einigen Punkten sehr gut identifizieren.
Im Moment bin ich an so einem Punkt mit dem Laufen angekommen. Erst konnte ich wegen Corona nicht und danach nahm/nehme ich mir immer vor, am nächsten Morgen zu laufen, tue es aber nicht, da ich denke, dass ich es ja soundso nicht schaffe “ordentlich” zu rennen.
Harald Faber
Liebe Iris,
Das ist der beliebte Fehler des eigenen Anspruchs, den viele haben und dann meistens leider tatsächlich gar nicht erst anfangen. Ging mir früher genau so, obwohl ich angefangen habe. Man startet untrainiert, läuft zu schnell, kommt entsprechend schnell aus der Puste, quält sich und verliert die Motivation, bevor der Spaß überhaupt begonnen hat.
Man muss sich ein paar Dinge bewusst werden:
1. Für wen laufe ich, für mich oder andere (Vergleich, Strava, Freunde etc.)?
2. Auch die anderen haben mal klein angefangen.
3. Man muss sich frei machen von Tempo- und Leistungsanspruch.
Was ich heute weiß, was nicht nur mir dabei geholfen hat, dran zu bleiben:
Scheiß aufs Tempo! Wie o.g. hatte ich früher (vor >= 10 Jahren; ich laufe jetzt mit Freude seit 2017) keinen Spaß am Laufen, war schnell aus der Puste etc. Dabei ist es im Grunde so einfach: Lauf langsamer! Die Herausforderung dabei: Man denkt, man läuft eh schon langsam und kommt selbst dabei aus der Puste – jetzt NOCH langsamer laufen? Dann kann ich ja gleich gehen und bin nicht viel langsamer. Das geht ja vom Kopf her gar nicht!?
Doch, das geht, und genau das ist der Schlüssel zum „Erfolg“. Wenn Du denkst, Du läufst eh schon langsam und kommst selbst dabei aus der Puste, wie frustrierend, dann lauf langsamer, scheiß auf das Tempo und fühl Dich wohl dabei. Fang klein an, langsam, kurze Strecken, die Du auch gut schaffen kannst, mach es Dir „schön“ (z.B. Laufbegleitung; ich laufe alleine gerne mit Musik, manche mit Podcasts, manche ohne alles und genießen die Ruhe oder Umgebung), dann kommen die Regelmäßigkeit (>= 3x pro Woche) und der Fortschritt automatisch, womit auch der Spaß zunimmt. Bald schaffst Du 5 km am Stück und wirst stolz darauf sein, wenn Du Dir die Strecke vor Augen hältst, wie weit das schon ist und dass Du Dir wenige Wochen zuvor kaum vorstellen konntest, das zu schaffen.
Viel Erfolg und viele Grüße,
Harald
Iris Tanner-Hopp
Vielen lieben Dank Harald für deine aufbauenden Worte 🙂
Daniel Roth
Hey Iris, ich denke es gibt kaum jemanden der dieses Gefühl nicht kennt. Wollte dir eigentlich ein paar Tipps geben, aber Harald hat es in seinem Kommentar schon perfekt auf den Punkt gebracht. Ich drück dir die Daumen, dass du bald wieder in die Spur kommst und den Spaß am Laufen wiederfindest (egal in welchem Tempo)!
Svenja
Wow, vielen Dank für die Buchempfehlung! Habe mich in der Zusammenfassung schon so wiedererkannt (Stichwort Sicherheit) und gleichzeitig neue Aspekte hinzugewonnen (Selbstvertrauen und Hoffnung), so dass ich das Buch auch unbedingt lesen möchte. Ich freue mich auch schon auf die angekündigte Podcastfolge mit den neuen Buchempfehlungen.
Auf youtube habe ich euch abonniert und die Glocke aktiviert! Wünsche euch ein glückliches und gesundes neues Jahr, mit Boston-Quali! :o)
Daniel Roth
Danke für die lieben Worte Svenja und schön dass die Buchempfehlung was für dich ist! 🙂 Wir wünschen dir natürlich auch ein tolles und gesundes neues Jahr!